Wie ich mich sehe

Das Beispiel ist drastisch: eine junge, behinderte, an Krücken gehende Frau, so berichtete der amerikanische Psychotherapeut Steve de Shazer (1940-2005), sei zu ihm in die Praxis gekommen, weil sie sich deprimiert fühlte. Sie befürchtete, dass ihre Mitmenschen sie als Krüppel sehen und fühlte sich von ihnen auch so wahrgenommen. Gemeinsam mit Steve de Shazer entwickelte sie dann im Laufe der Beratung, dass sie ihre Krücken nicht mehr versuchen will zu verstecken, wie bislang, sondern im Gegenteil. Sie kaufte sich bunte, dekorative Krücken, mit denen sie überall auffiel. Der verblüffende Effekt: Statt als behindert wahrgenommen zu werden, galt sie bei ihren Kollegen und Freunden jetzt als stark, selbstbewusst und attraktiv. Allmählich übernahm sie die Einschätzung ihrer Mitmenschen und verhielt sich tatsächlich anders, zeigte sich selbstsicherer und offener und entwickelte daraus für sich neue private und berufliche Perspektiven.

Die verrückten Krücken allein hätten ihr Leben nicht verändert. Entscheidend war, dass sie sich nach einer Weile selbst anders wahrgenommen hat als zuvor. Jetzt hätte sie auch jederzeit die unscheinbar mausgrauen Gehhilfen aus dem Schrank ziehen und benutzen können. Ihre Einschätzung, sie sei stark und leistungsfähig, hätte sie beibehalten.

Steve de Shazer hat in der Beratung zweierlei getan: Er hat darauf verzichtet, die junge Frau davon zu überzeugen, dass sie stark sein müsse, um anders gesehen zu werden. Weiterhin hat er die bunten Stützen als das genommen, was sie sind. Eine Chance, sich so sicher und so unabhängig wie möglich durch das Leben zu bewegen. Von da aus war es dann nur noch ein kleiner Schritt hin zu den knallig-verrückten Krücken und der Erfahrung, dass ihre Mitmenschen die junge Frau damit anders wahrnehmen als zuvor und sie am Ende sich selbst auch.

Oft sind es tatsächlich scheinbar kleine Schritte, die uns dazu bringen, unsere Situation anders zu sehen und uns deshalb anders zu verhalten. Dies kann am Ende sogar dazu führen, dass bislang unlösbar erscheinende Probleme ganz verschwinden oder für uns zumindest unwichtiger werden. Sobald wir uns erlauben und damit beginnen, uns und unsere Umgebung anders wahrzunehmen und für uns neu zu bewerten, können wir für uns bislang ungewohnte Handlungsfelder entdecken und ausprobieren. Und wenn idealerweise uns auch noch andere dabei helfen, uns anders zu erfahren, wie es die Kollegen und Freunde der jungen Frau durch ihr verändertes Verhalten getan haben, dann kann sich für uns eine neue Welt auftun.

Checkliste

 

1.) Es gibt keine objektive Realität „unserer Welt“: Wenn dem so ist, dann können wir entscheiden, wie wir „unsere Welt“ sehen möchten. Setzen wir die Rosabrille auf, sieht die Welt für uns anders aus, als wenn wir die Brille mit den dunklen Gläsern tragen. Draußen, vor unseren Brillengläsern hat sich nichts verändert. Hinter unseren Brillengläsern hat sie sich verwandelt. In eine rosarote oder eine dunkel eingefärbte Welt. Damit ist allerdings immer noch nicht viel mehr gesagt, außer, die eine Welt ist rosarot, die andere dunkel. Jetzt kommen unsere Gefühle und unsere Bewertungen hinzu: sehen wir die rosarote Welt als heiter und fröhlich an, werden wir uns in ihr anders bewegen, als in der dunklen, die wir womöglich als bedrückend einstufen. Wir können jedoch auch anders darüber denken: die rosarote Welt ist für uns zu langweilig, zu bonbonhaft, zu steif, während die dunkle Welt mit ihren offen daliegenden und versteckten Möglichkeiten uns reizt, uns darin auszuprobieren.

2.) Wie wir unsere Welt wahrnehmen, hängt unter anderem auch davon ab, ob wir alle uns zur Verfügung stehenden Informationen aufnehmen und zulassen oder lieber einige davon ausblenden, weil sie nicht in unser von uns entworfenes Weltbild passen. Weshalb sollen wir etwas am Arbeitsablauf in unserem Unternehmen ändern oder an unserer Arbeitsweise, bislang lief alles doch so gut. Wir bleiben lieber bei unserer vertrauten Sichtweise oder den uns lieb gewordenen Vorurteilen. Statt hinzuschauen und zu prüfen, ob wir etwas ändern können und sollten.

Tipps zum Lesen

De Shazer, Steve: Wege der erfolgreichen Kurztherapie, 2012 (9. Auflage), Klett-Cotta Verlag, ISBN: 978-3608955057

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