Mein „fremder“ Blick

Was würden wir sehen und fühlen, wenn wir uns ab und an in unser Gegenüber hineinversetzten? Z. B. in unsere Sekretärin, die auch den 30. Anruf in einer Stunde freundlich und höflich beantwortet? Oder in unsere Chefin, die für 300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen verantwortlich ist? In den Zugbegleiter im voll besetzten Zug mit vielen ungeduldigen Reisenden oder in die Lehrerin in einer Klasse mit 25 temperamentvollen Erstklässlern? Vermutlich würden wir so manche Reaktion unserer Mitmenschen besser verstehen. Womöglich regt uns der „fremde“ Blick sogar dazu an, unsere eigene Situation neu zu betrachten und am Ende ungewöhnliche Ideen für längst Gewohntes zu entwickeln. Damit uns der „fremde“ Blick gelingt, damit wir die Perspektive wechseln können, brauchen wir ein gewisses Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft, uns auf mehr als auf das uns Bekannte einzulassen. Wir können dann nicht nur uns selbst sehen und unsere Seite eines Sachverhaltes. Sondern wir schenken uns dadurch die Chance, neue Aspekte einer scheinbar bekannten Gegebenheit wahrzunehmen.

Durch einen Wechsel der Perspektive ließe sich vermutlich auch so mancher Konflikt am Arbeitsplatz und im Privatleben vermeiden und so manche Kommunikationsstörung träte erst gar nicht auf. Das ist jedenfalls die Überzeugung des Hirnforschers Ernst Pöppel (Die Welt am Sonntag, 5. Januar 2014). Für den Professor der Medizinischen Psychologie ist die Fähigkeit, sich in andere hineinversetzen und unterschiedliche Perspektiven einnehmen zu können, eine wichtige (wenn auch nicht die einzige) Voraussetzung dafür, dass wir unser Gegenüber verstehen, respektvoll miteinander umgehen und dass wir kluge Entscheidungen treffen. Gelingt es uns, den anderen „mitzudenken“, ihn zumindest gedanklich als Partner in unseren Gestaltungsprozess mit einzubeziehen, dann sähe so manche Produktentwicklung anders aus und so manche politische Idee hätte die Weltbühne nie betreten.

Wenn Führungskräfte beobachten, dass Mitarbeiter bestimmte, ihnen vorliegende wichtige Sachverhalte einfach nicht verarbeiten, dann kann eine der Ursachen darin liegen, dass es den Mitarbeitern schwer fällt, andere Blickrichtungen als ihre eigenen einzunehmen. Führungskräfte können dann durch Zuhören und wertschätzende Fragen ihre Mitarbeiter vermehrt zu einem Perspektivenwechsel auffordern und ihnen mit klaren Aufgabenbeschreibungen eine wertvolle Unterstützung sein.

Checkliste

 

1.) Die Fähigkeit, die Perspektive zu wechseln und damit sich selbst neue kreative Lösungsmöglichkeiten zu erschließen, lässt sich trainieren. Manchmal hilft es bereits, sich z. B. in der gewohnten Umgebung des Arbeitsplatzes auf die andere Seite des Schreibtisches zu setzen oder den Raum oder das Haus zu verlassen.

2.) Fragen wie: was ist gut an der Situation? Was sehen wir, wenn wir die Situation oder das Produkt aus der Sicht unseres Kunden, unseres Mitarbeiters, unseres Kollegen betrachten statt aus unserer Perspektive? Oder die bekannte Frage, ist für uns das Glas halb leer oder halb voll?

3.) Je nach der Perspektive, aus der wir eine Situation betrachten, treffen wir unsere Entscheidungen. Betrachten wir zum Beispiel eine Herausforderungen mit den Augen von Menschen, die uns wichtig sind, etwa unsere Freunde und Familie, dann kommen wir häufig zu anderen Schlussfolgerungen, als wenn wir von einer abstrakten Position heraus die Situation bewerten. Nach Studien von Prof. Pöppel werden in beiden Fällen unterschiedliche Gehirnareale aktiviert. Aus einer abstrakten Position heraus scheint ein Perspektivenwechsel für uns viel schwerer möglich zu sein, als wenn wir uns konkrete Menschen als Betroffene vorstellen.

Tipps zum Lesen

Pöppel, Ernst: Dümmer im Schwarm, Die Welt am Sonntag, 5. Januar 2014

Pöppel, Ernst, Wagner, Beatrice: Dummheit: Warum wir heute die einfachsten Dinge nicht mehr wissen. 2013, Riemann Verlag, ISBN: 9783570501597

Stöger, Christine, Lion, Brigitte, Niermann, Franz: Professionalisierung im Lehrberuf, 2010, Beltz Verlag, ISBN: 9783407626738

Harvard Business Manager: www.havardbusinessmanager.de/blogs/artikel/a-654698.html

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