Weshalb hat ein Vogel zwei Flügel?

Weshalb trägt er keinen Propeller auf dem Rücken? Ein Hubschrauber fliegt doch auch. Fragen wie diese habe ich mir nie wirklich gestellt und mir auch keine großen Gedanken dazu gemacht. Wie zu vielem anderen auch nicht. Die Dinge sind ‚halt so‘, wie sie sind und sie funktionieren irgendwie. Leonardo da Vinci (1452-1519), der vielleicht größte Universalgelehrte aller Zeiten, dessen Kunstwerke ‚Das Abendmal‘ und die ‚Mona Lisa‘ heute weltberühmt sind, dagegen war, so scheint es, auf so gut wie alles neugierig und stellte z. B. die Frage nach den zwei Flügeln, weil er davon träumte, fliegen zu können. Seine Neugierde hat den in Vinci (Toskana) geborenen Künstler weltberühmt gemacht. Er schuf nicht nur einmalige Kunstwerke mit damals neuartigen Maltechniken wie der Ölmalerei, sondern er studierte heimlich an Leichen die Anatomie des Menschen, entwarf Fallschirme, mit denen Menschen nachweislich fliegen können, befasste sich mit dem Automobilbau, mit Entwässerungskanälen und mit dem Vorläufer eines Helikopters.

Neugierde kann – und das zeigt sich an Leonardo besonders plastisch – zu vielen neuen Gedanken, Ideen und Erfindungen führen. Weshalb sind wir dann so oft genervt, wenn z. B. in Meetings, bei Präsentationen, Vorträgen, Vorlesungen und Gesprächen Kolleginnen und Kollegen oder Vorgesetzte Fragen stellen und mehr von uns wissen wollen? Oder wenn uns Kinder z. B. fragen, weshalb kann ein Auto fahren und wir nicht? Ist es unsere Angst, als unwissend abgestempelt und durch Fragen bloß gestellt zu werden oder ist es das Gefühl, versagt zu haben, weil wir zum Beispiel bei dem auf dem Tisch liegenden Projekt uns vorab nicht selbst die entscheidenden Fragen gestellt haben?

Neugierig zu sein, kann auch deshalb Angst machen, weil unsere Neugierde zu unerwarteten Veränderungen führen kann. Etwa, wenn unsere Fragen unsere Kollegen, Mitarbeiter oder Vorgesetzte auf neue Ideen bringen, sich dadurch unsere komfortable Nische verändern und wir plötzlich rauen Winden ausgesetzt sind. Also behalten wir unsere Fragen lieber für uns. Auch wenn es für alle Beteiligten zielführender und wirtschaftlich dringend erforderlich wäre, dass sich etwas verändert.

Manchmal sind wir auch einfach zu bequem, neugierig zu sein. Weshalb Fragen stellen, es ist doch alles gut so, sagen wir uns dann. Wer viel fragt, bekommt viele Antworten und nicht jede davon mag uns gefallen.

Womöglich ist jedoch unser Beruf nicht der richtige Ort, viele Fragen zu stellen. Versuchen wir es doch einmal im Privaten. Neugierig sein können wir überall. Zum Beispiel bei der Zugbegleiterin, die erschöpft den übervollen Abendzug kontrolliert. Auf meine Bemerkung, sie habe eine witzige Brille auf (und die war wirklich cool), fing sie an zu strahlen und erklärte mir mit einem Lächeln, wie leicht es für sie ist, mit wenigen Handgriffen und andersfarbigen Bügel eine ganz neue Brille zu gestalten. Unser kurzes Gespräch hat uns beiden ein paar Sekunden lang Freude gemacht und den Alltag vergessen lassen. Denn unser Gehirn genießt es, wenn wir es durch neue Aufgaben, neue Herausforderungen, durch Lernen und nicht zuletzt durch Fragen immer wieder neu fordern. Und sei es nur durch Fragen nach ungewöhnlichen Brillenbügeln.

 

Checkliste

 

1.) Wenn wir merken, wie verbieten uns selbst neugierig zu sein, weil wir Angst vor den Antworten und Konsequenzen haben, dann können wir uns fragen, „angenommen, ich stelle diese Fragen, was könnte dann im allerschlimmsten Fall geschehen?“ Und meistens ‚hören‘ wir „eigentlich nichts“.

2.) Neugierig zu sein bedingt bessere Leistungen in Prüfungen. Untersuchungen bei 5000 Studenten haben ergeben, dass ihre Ergebnisse direkt mit ihrer Neugierde korrelieren. (Sophie von Stumm, Goldsmith University, London).

3.) Damit Kinder sich in Schule und Kindergarten aufgefordert fühlen, neugierig sein zu können, genügt augenscheinlich ein einladendes Lächeln des Lehrers oder der Lehrerin (Susan Engel, Williams College, Williamstown, MA).

Tipps zum Lesen

Engel, Susan: The hungry mind: The origins of couriosity in childhood, 2015, Harvard University Press

Von Stumm, Sophie: The hungry mind: Intellectual curiosity as third pillar of academic performance. 2011, Perspectives on Psychological Science, 6, 574-588, 2011

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