Das goldene Armband als Klischee

Fahrkartenkontrolle im ICE auf der Fahrt durch Deutschland: Ein freundlich dreinblickender Zugbegleiter mit gepflegten grauen Haar gibt den Fahrschein zurück. Dabei rutscht ihm der Ärmel der dunkelblauen Uniformjacke mit breitem roten Band nach oben und enthüllt an seinem linken Handgelenk ein mächtiges, goldenes Gliederarmband.

Damit hatte ich in dem Moment nicht gerechnet. Denn in meinem Klischee von einem seriösen Beamten kommt ein wuchtiges Goldarmband an dessen Handgelenk nicht vor. Wieder einmal waren meine Erwartungen an mein Gegenüber weit weg von der Realität. Wieder einmal musste ich wahrnehmen, dass ich statt zu ‚schauen und dann zu definieren‘ wie der amerikanische Schriftsteller Walter Lippmann (1889-1974) in seinem 1922 veröffentlichten und bis heute viel gelesenen Werk ‚Die öffentliche Meinung’ schrieb, ‚erst definiere und dann schaue‘.

Vorurteile entstehen früh. Bereits im Kindesalter von etwa drei bis fünf Jahren beginnen wir, Abneigungen und negative Bewertungen über andere Menschen von den Erwachsenen zu übernehmen. Und auch gegenüber uns selbst. Manchmal glauben wir dann ein ganzes Leben lang, wir seien für nichts wirklich gut genug. Wir stecken uns in die ‚ich bin nicht okay-Schublade‘, in der dann auch noch so Vorurteile über uns liegen wie, ‚Du schaffst das sowieso nicht, lass es lieber sein und höre auf, Dich anzustrengen‘ und ignorieren damit unsere Fähigkeiten, unser berufliches Können und unsereMöglichkeiten.

Wie viele Vorurteils-Schubladen wir besitzen, hat vermutlich noch keiner gezählt. Sicher ist jedenfalls, dass Klischees und Abneigungen häufig den Blick auf die reale Situation und einen konkreten Sachverhalt verhindern. Sie halten uns davon ab, Menschen in unserer Umgebung besser oder neu kennenzulernen. Denn es ist für uns bequemer, an unseren Fehlurteilen und Überzeugungen festzuhalten, statt zu versuchen, sie abzubauen. Schließlich wissen wir doch, wie z. B. Banker, Chefs, Autoverkäufer, Lehrer und Rechtsanwälte denken und handeln.

Vorurteile lassen sich schwer verändern. Denn sie stellen unsere Urteilskraft in Frage und fordern von uns, uns mühselig daran zu machen, Gewohntes und Geübtes anders zu betrachten als bislang. Nachdem sich z. B. der bislang zurückhaltende Kollege klar und prononciert in einem Meeting positioniert hat, müssen wir ihn mit anderen Augen betrachten und sehen, dass er jemand ist, der die Dinge souverän auf den Punkt bringt. Statt zu meinen, hinter seiner schüchternen Art stecke Unsicherheit und Nichtwissen.

Vorurteile können so stark sein, dass auch ‚vorverurteilte‘ Menschen sie übernehmen. Der in Anlehnung an den 1940 von den Psychologen Kenneth Bancroft (1914-20105) und Mamie Phipps Clark (1917-1983) mit dreijährigen Kindern durchgeführte und 2010 vom amerikanischen Nachrichtensender CNN aufgegriffene ‚doll test’ enthüllte, dass selbst wegen ihrer Hautfarbe diskriminierte afroamerikanische Kinder genauso hellhäutige Puppen zum Spielen bevorzugten, wie ihre weißen Spielkameraden. Sie hatten bereits gelernt und erfahren, dass ihre Gesellschaft hellhäutige Menschen bevorzugt. Obwohl sie im Experiment erkannt hatten, dass sie den farbigen Puppen ähnlich sind.

Vorurteils- und Rassismus-Forscher glauben, dass Vorurteile unter anderem den Zweck haben, die Macht der Mehrheit in einer Gesellschaft oder in einer Gruppe zu erhalten und möglichst noch auszubauen. Diejenigen, die zu der Gruppe gehören, profitieren von den Privilegien oder hoffen darauf, sie ebenfalls zu bekommen.

Niemand von uns gibt gerne zu, Vorurteile zu haben. Oft nehmen wir nicht einmal war, dass wir Vorurteile haben. Und nur selten überprüfen wir sie. Auch im beruflichen Alltag. Dem schüchternen Kollegen trauen wir seltener zu, eine gute Ausarbeitung für ein Projekt zu machen, als dem extrovertierten, der eloquent seine manchmal auch sehr vorgefasste Positionen vertritt und deshalb geeigneter erscheint.

Bleibt zu fragen, welche Vorurteile ich habe. Bei einem ‚leichten‘ Thema wie Fußball kenne ich sie: Für mich ist Cristiano Ronaldo von Real Madrid immer noch der beste Fußballspieler der Welt.

 

Checkliste

1.) Ursprünglich meinte das Wort Klischee eine Schablone zum Drucken von Zeitungen und Büchern. Ein Klischee lässt sich beliebig oft benutzen.

2.) Vorurteile sind abhängig von dem jeweils existierenden Wertesystem. Je nach sozialen Gruppen und den geschichtlichen Entwicklungen sind sie verschieden und verändern sich im Laufe der Zeit. Außerdem sind Vorurteile bei den jeweiligen Persönlichkeit unterschiedlich ausgeprägt. Menschen mit gering ausgebildeten Selbstbewusstsein tendieren eher dazu, Vorurteile gegenüber anderen zu entwickeln und zu äußern, als Persönlichkeiten mit Vertrauen in sich selbst.

3.) Immer wieder scheitern Menschen mit ausländisch klingenden Namen bei Bewerbungsgesprächen, obwohl sie alle Voraussetzungen für die aktuell ausgeschriebene Stelle mitbringen und vermutlich jeder Personalverantwortliche und Chef sagt, er habe keine Vorurteile gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund.

Tipps zum Lesen

Bundeszentrale für politische Bildung: Was sind Vorurteile, 13. 1. 2006,

Link auf die Website

Austen, Jane: Stolz und Vorurteil (1813), z. B. Aufbau Taschenbuch, ISBN: 978-3746651064

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