Dem Leben entfremdet

Sie kennen ihn vermutlich längst. Denn wenn es stimmt, dann ist der Werbespot eines großen Lebensmittelkonzerns über den einsam Weihnachten feiernden Vater und Großvater bereits über 40 Millionen Mal bei You Tube angeklickt worden. Mit dem Trick einer selbstgeschriebenen Todesanzeige schafft es der alte Herr in dem 1,47 Minuten langen Spot, dass seine Kinder und Enkelkinder endlich wieder einmal Zeit finden, ihn zu besuchen und mit ihm Weihnachten zu feiern. Und sei es nur, weil sie glauben, er sei gestorben. Der Werbespot sucht unsere Sehnsucht nach Familie und Freunde anzurühren, unseren Wunsch nach Harmonie zu befriedigen, nach gutem und gemeinsamen Essen – denn es ist immerhin ein Lebensmittelkonzern, für den er wirbt – und vielleicht etwas subtiler nach dem, was der französische Schriftsteller Antinone de Saint-Exupery (1900-1944) meint, wenn er schreibt: „Man sieht nur mit dem Herzen gut“. Mit diesem Satz und dem danach folgenden „das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ erklärt der Fuchs dem kleinen Prinzen in der berühmten philosophischen Erzählung „Der kleine Prinz“ (1943) das Geheimnis zwischenmenschlicher Beziehungen.

Vielleicht reicht für das Erkennen des Wesentlichen bereits der Blick in die Augen eines anderen, in die des Kollegen, der Freundin, des Sohnes oder der Ehefrau, um zu empfinden, dass es jetzt notwendig ist, sich auf den anderen einzulassen. Weil Angst darin zu lesen ist, Verzweiflung, Sehnsucht, Unsicherheit, Freude oder Liebe. Auch wenn die Botschaft des eigenen und sehendes Herzens gerade so gar nicht ins Zeitfenster passt und die vom anderen empfangenen Gefühle den eigenen, exakt durch getakteten Terminkalender durcheinander bringen, weil Aufmerksamkeit für ihn Zeit braucht. Was also tun, wenn beispielsweise der erfahrene Kollege wegen seiner kranken Frau nur noch in Teilzeit arbeitet und damit seine Kompetenz nicht mehr ständig zur Verfügung steht. Oder wenn die Stelle der in Mutterschutz gehenden Kollegin frei bleibt, bis sie wieder in ihren Beruf zurück kehrt. Mitgefühl, ein ruhiges achtsames Gespräch und die Freude über das Baby wären die Antworten des Herzens. Stattdessen Kälte und Ärger der anderen, weil sich für sie die bislang so bequemen Tagesabläufe ändern und sie mehr Verantwortung und Arbeit einbringen müssen, wenn die Kolleginnen und Kollegen zumindest zeitweise fehlen.

Zugegeben, der Werbespot ist ein mit dicken schwarzen und weißen Pinseln gemaltes Bild. Vermutlich hätte er zu einer anderen Jahreszeit deutlich weniger Resonanz erfahren. An den Tagen um Weihnachten und an den Feiertagen selbst kann das geschehen, was sonst im Alltag vielfach kaum noch Platz findet, nämlich sich Zeit für andere zu nehmen und Nähe zu anderen und zu sich selbst zuzulassen. Sich zu erlauben, mitzufühlen und Gefühle zu zeigen.

Auch das erzählt der Werbespot: Die ansonsten beruflich und privat höchst engagierten Kinder des alten Herrn vergessen eine lange und fröhliche Mahlzeit lang, dass sie sich und ihre Tagesabläufe ständig kontrollieren, um sich nicht auf zu viele Gefühle einlassen zu müssen und sei es die, sich miteinander zu freuen. Mit seiner selbst verfassten Todesanzeige fordert der Vater und Großvater von seinen Kindern und Enkelkindern ein, was er braucht, und was sie ihm am Ende des Spots auch schenken: gemeinsam herzlich zu lachen. Wie das Christkind im 2. Vers des weltweit beliebtesten Weihnachtslied „Stille Nacht, heilige Nacht … Gottes Sohn, o wie lacht, Lieb aus deinem göttlichen Mund“…

Mehr zum Thema

1.) Die Textzeile „Dem Leben entfremdet“ ist der Titel eines Buches des Schriftstellers und Psychotherapeuten Arno Gruen (1923-2015). Für ihn ist es die Scheinwelt der Abstraktionen, die unser empathisches Bewusstsein verleugnet. Empathie und Mitgefühl sollten nach seinen Ausführungen wieder zum Herzstück unseres Seins werden.

2.) Weihnachten bietet neben dem Mitfühlen, dem gemeinsamen Lachen auch noch eine andere Chance: sich zu entspannen und zu entschleunigen. Sich zurückzuziehen in sich selbst, in die eigene Welt, in die eigene „Stille Nacht“. Und diese „Stille Nacht“ zumindest zeitweise einzufordern entgegen aller Ansprüche und Erwartungen seitens der Familie und der Freunde.

3.) Gefühle lassen sich nicht in ein Zeitmanagement packen. Angst kommt ohne Vorankündigung und quetscht sich durch alle Kontrollen hindurch. Liebe manchmal auch. Doch in einer sich immer mehr beschleunigende Welt mit voll gepackten Terminkalendern, klaren Vereinbarungen und Kontrollen haben „Gefühls-Überraschungen“ wenig Platz und werden oft genug verneint. Sie weg zu drücken kostet immer mehr Kraft, je länger der Prozess dauert, bis zur seelischen und körperlichen Erschöpfung.

Tipps zum Lesen

  • Gruen, Arno: Dem Leben entfremdet, 2015, Klett-Cotta Verlag, ISBN: 9783423348362
  • Saint-Exupéry, Antoine: Der kleine Prinz, Karl Rauch Verlag, ISBN: 9783792000274
  • SWR 2, Glauben, Keine Angst vorm Fühlen, 13. 12. 2015, www.swr2.de

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