Steine im Weg

In einem großen Hotel, das ich seit Jahren kenne, finde ich bei einem erneuten Besuch plötzlich einen Spruch auf einer bislang schlicht weißen Wand der Hotelhalle. In großen, schwungvoll geschriebenen Buchstaben lese ich: ‚Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man etwas Schönes bauen‘ Johann Wolfgang von Goethe. Verblüfft und leicht irritiert frage ich mich, weshalb gibt mir das Hotel gerade dieses Zitat von Goethe mit in den angenehmen Hotelaufenthalt? Und weshalb sollen ausgerechnet Steine im Weg, die doch eher lästig sind, weil sie mich zwingen, anzuhalten und vielleicht sogar einen Umweg zu gehen, zu etwas Schönem führen? Und was kann ich mir aus herumliegenden Steinen Schönes bauen? Eine Weile lang kann ich mich nicht entscheiden, ob Goethe mich beschwichtigen will mit seinen Worten oder mir eher Mut machen möchte, auch schwierige Situationen als eine Chance zu begreifen, aus der ich etwas lerne. Goethe spricht mit seinem Zitat keine verzweifelten Momente an, sondern jene Konstellationen, die beschwerlich, jedoch nicht ausweglos erscheinen. Ich brauche dann noch eine Zeit, ehe ich erkenne, dass meine Irritation über den Satz an der Hotelwand Ausdruck meiner inneren Widerstände gegenüber das auf mich verweisende Bild von Goethe ist. Steine im Weg wie beispielsweise verspätete Züge oder Flugzeuge oder vergessene Termine, kranke Mitarbeiter, die in der Urlaubszeit nicht zu ersetzen sind, Aufträge, die storniert werden und das geplante Umsatzziel für das Geschäftsjahr unerreichbar erscheinen lassen, verleiten mich, zu jammern und mich zu bemitleiden. Beides ist in Ordnung – ein paar Momente lang. Dann jedoch sagt Goethe, prüfe einmal nach, wozu Du diese Steine verwenden kannst. Entweder, ich versuche sie wegzuräumen, vielleicht mit Hilfe von anderen oder ich lasse sie liegen und versuche sie zu umgehen oder ich suche mir einen neuen Weg, der mir möglicherweise eine ganz andere Aussicht bietet, statt der gewohnten und zur Routine gewordenen Perspektive. Der stornierte Auftrag erlaubt es mir beispielsweise, die frei gewordene Zeit dazu zu nutzen, meine Ideen, die ich seit langem mit mir herumtrage, endlich zu konkretisieren und zu verwirklichen. Die kranken Mitarbeiter zwingen mich, andere Kollegen mit ihren Aufgaben zu betrauen, mit dem überraschenden Ergebnis, dass ich mir eingestehen muss, bei ihnen längst vorhandene Potentiale bislang nicht entdeckt und gefördert zu haben. Verspätete Züge und dadurch verpasste Termine nötigen mich, zu erkennen, dass ein Projekt auch ohne mich weiter geht. Ob ich diese Erfahrungen und Herausforderungen als etwas ‚Schönes‘ bezeichnen würde, wie Goethe sagt, vermag ich nicht so eindeutig zu beantworten. Bei den in den Weg gelegten Steinen kann ich zumindest immer wieder versuchen, für mich die Chance zu sehen, neue Perspektiven zu entwickeln.

 

Checkliste

 

1.) Wir machen Pläne, organisieren unseren Alltag, strukturieren unsere Arbeit und stehen immer wieder vor der Herausforderung, dass uns unerwartet Steine in den von uns avisierten Weg gelegt werden. Management-Experten empfehlen deshalb Führungskräften häufig, die Hälfte ihrer Arbeitszeit für Unvorhergesehenes frei zu halten, um flexibel reagieren und handeln zu können.

 

2.) Steine im Weg können wir entweder als beschwerliche oder unüberwindbar erscheinende Hindernisse ansehen – oder, zumindest nach einer Weile des Jammerns – als Herausforderung, neu über unsere Situation nachzudenken, sie zu bewerten, die entsprechenden Schlüsse für uns daraus zu ziehen und vielleicht sogar etwas Schönes für uns daraus zu entwickeln.

 

3.) Werden uns ‚Steine in den Weg gelegt‘, dann ist es wichtig zu erkennen, dass nicht wir, sondern die äußeren Umstände es sind, die uns zur einer Neuorientierung auffordern.  

 

4.) Legen wir uns selbst Steine in den Weg, dann kann uns die Frage helfen, welchen Vorteil haben wir davon, wenn wir uns diese Probleme selbst schaffen? Z. B. wenn wir Termine ungerne oder gar nicht einhalten oder Arbeiten verspätet erledigen, zum Ärger unserer Kolleginnen und Kollegen oder unserer Vorgesetzten. Steckt hinter diesen von uns selbst in den Weg gelegten Steinen, dass wir uns wünschen, von unserem Gegenüber gesehen und wahrgenommen zu werden? Brauchen wir Anerkennung, die uns die Umgebung nicht gibt und die wir uns auf diese Weise glauben holen zu können?

 

5.) Von uns selbst in den Weg gelegte Steine können uns helfen, unseren Sehnsüchten und Ängsten auf die Spur zu kommen. Unterstützen können uns dabei unsere Familie, unsere Freunde, ein Coach oder ein Therapeut.

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