Die Trotzmacht des Geistes

„Sobald mir mehrere Menschen zuhören, stottere ich, wenn ich etwas vortragen oder erklären will. Im Zweiergespräch bleibe ich ruhig und gelassen. Da passiert es mir nie.“ Tobias B. hatte deshalb um ein Coaching für das richtige Präsentieren gebeten. Der gelernte Agraringenieur und Mitarbeiter eines Unternehmens für Umwelttechnik und Vertrieb sollte im Rahmen einer Erweiterung des Dienstleistungsangebots seines Unternehmens bundesweit die Mitarbeiter der einzelnen Niederlassungen schulen und weiterbilden. „Ich glaube, ich bin ein guter Kollege und für meine Freunde ein prima Kumpel. Öffentliches Auftreten macht mir jedoch Angst.“

Nach einem intensiven Stimm- und Körpersprachentraining stotterte Tobias B. bei seinen Vorträgen deutlich seltener, „aber“ so sagte er nach einiger Zeit, „es tritt zwischendrin immer wieder auf und bringt mich dann nach wie vor so richtig aus dem Konzept. Und wenn ich vor einem Vortrag daran denke, dann rege ich mich auf und bekomme sofort Angst, dass es mir wieder passieren könnte.“

Ihm half am Ende ein anderer Weg, die sogenannte ‚paradoxe Intervention‘. In der von dem Wiener Neurologen und Psychiater Viktor Emil Frankl entwickelten Methode wird das auftretende, den Klienten störende Verhalten nicht bekämpft, sondern akzeptiert und sogar übertrieben und noch gefördert. Z. B. versuchen Menschen, die stottern, wenn sie aufgeregt sind, nach der Methode von Frankl in bestimmten Situationen absichtlich mehr zu stottern. Tobias B. übte sich beispielsweise darin, zu Beginn jedes Vortrags einen in das Thema einführenden ‚Stotterwitz‘ zu erzählen und nach einigen Versuchen gelang es ihm, damit seine Zuhörer und sich selbst zum Lachen zu bringen. Stotterte er in seinem weiteren Vortrag erneut, machte er bewusst eine Pause und erzählte noch einen Stotterwitz, der zum Thema passte, und bedankte sich am Ende bei seinen Zuhörern für ihre Geduld. „Anfangs gelang mir das nicht so ohne weiteres. Je länger ich dies ausprobierte, umso kreativer ging ich mit meinem Stottern um, und inzwischen stottere ich nur noch sehr selten.“

Mit dem Übertreiben seines Stotterns hat Tobias B.  an die „Trotzmacht des Geistes“, wie Frankl sagt, appelliert. Er hat bestimmt, was er tut, und wie er sich seiner Angst stellt. „Mit der ‚Trotzmacht meines Geistes‘ und mit viel Humor habe ich es geschafft, dass ich mich nicht mehr meiner Angst vor dem Stottern ausliefere, sondern ich gehe souverän mit mir und meinem Stottern um.“

 

Checkliste

 

1.)Unter der ‚Trotzmacht des Geistes‘ versteht Viktor Emil Frankl die Fähigkeit des Menschen, selbst über sich zu bestimmen und sogar über sich hinauszuwachsen. Daraus entwickelte er die paradoxe Intervention.

2.)Bei der paradoxe Intervention nach Frankl wird das vorhandene Problem stark übertrieben, statt es zu bekämpfen. Wichtig dabei sind ein vertrauensvoller und zugewandter Umgang mit sich selbst sowie Humor und Witz. Die paradoxe Intervention gelingt bei Menschen ohne Humor eher selten.

3.)Paradoxe Intervention kann im Coaching, in der Therapie oder bei bestimmten Fragen und Problemen auch allein angewandt werden, sofern der Kern des Problems erkannt ist.

4.)Für Viktor Emil Frankl heißt ‚Trotzmacht des Geistes‘, dass wir uns nicht alles von uns selbst und von unseren Ängsten ‚gefallen lassen‘. Dass wir erkennen, wir sind stärker als unsere Ängste und Schwächen. Mit unserem Geist, mit unserem Bewusstsein, mit unserem Willen, so Frankl, können wir ihnen trotzen.

Tipps zum Lesen

Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse, 207, dtv Verlag, ISBN: 9783423344272

Beiträge, die Sie auch interessierten könnten