Mein Chef kennt meinen Arbeitsplatz nicht!

Gespielt resigniert legte Verena S. ihre Hände in den Schoß. „Wir haben alles versucht“, erzählte die engagierte Filialleiterin einer Bank, „immer wieder sagte mein Chef einen Besuch zu, und kam am Ende doch nicht.“ Monatelang bemühte sich meine Klientin, ihren Chef aus seiner Zentrale herauszulocken für ein Gespräch über die spezifischen Herausforderungen einer Bankfiliale in einem historischen Bauwerk. „Natürlich gibt es Vorgaben der Verwaltung unserer Bank und grundsätzliche Aussagen seitens des Konzerns, wie das Innere unserer Filiale aussehen soll, ganz im Sinne der Corporate Identity.“ Was ihr jedoch fehlte, war die Freiheit, die generellen Vorstellungen ihres Hauses vor Ort konkret und individuell umsetzen zu können und damit ihren Mitarbeitern einen besonders freundlichen Arbeitsplatz zu bieten und ihren Kunden einen angenehmen Aufenthalt in der Zweigstelle zu ermöglichen. „Wir hatten uns beispielsweise eine klare Führung der Kunden an den Schaltern gewünscht, damit die Drängler keine Chance haben, die Schüchternen auf die Seite zu schieben und wir in Ruhe jeden Kunden beraten können. Doch ein Leitsystem innerhalb unserer Filiale bekamen wir einfach nicht.“

Immer wieder hat sie mit Humor versucht, ihren Chef zu einer Ortsbesichtigung in „seiner“ Filiale zu einzuladen. Bei jeder Besprechung sagte sie entweder am Anfang oder am Ende, im Übrigen freue sie sich heute schon auf den Tag, an dem er vorbeischaue und mit ihr gemeinsam eine Lösung finden werde. Ohne Erfolg.

Ihr Chef, findet sie heute, hatte Glück. Denn trotz der frustrierenden Situation, die in ihrer stark frequentierten Filiale täglich zu kleinen unangenehmen Szenen führte, machte (und macht) ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen und ihr die Arbeit viel Freude und ließ sie vergessen, dass ihr Chef entgegen seinen Beteuerungen an ihrem konkreten Arbeitsumfeld wenig interessiert war. Unverständlich blieb ihr allerdings, weshalb sich niemand aus der Führungsspitze ihrer Frage annahm. „Immerhin“, sagte sie, „erwirtschaften wir hier eine ganze Menge Gewinn, und wir wären sicherlich noch besser, wenn die Arbeitsbedingungen für uns optimal strukturiert wären.“

Am Ende griff sie zu einem Trick. Anlässlich ihres 25jährigen Dienstjubiläums lud sie ihre Mitarbeiter und ihren Chef nach Feierabend zu einem Umtrunk mit Imbiss in ihrer Filiale ein und stimmte vorher den Termin mit der Sekretärin ihres Chefs ab. Inzwischen hat sie das erwünschte Leitsystem, ihr Chef notierte im nächsten Geschäftsbericht höhere Gewinne aus ihrer Zweigstelle, und er hat seither alle Filialen besucht, für die er verantwortlich ist.

Checkliste

Die Checkliste verweist auf Fragen und Erfahrungen aus der täglichen Coaching-Praxis.

1.) Mitarbeiter klagen häufig darüber, dass ihre Führungskräfte nicht wissen, wie ihre Arbeit und ihr Arbeitsplatz aussehen. Selbst Einladungen an ihre Chefinnen und Chefs, einmal auf einen Besuch vorbei zu kommen, bleiben oft genug ungehört. Gerade für Führungskräfte von Unternehmen, die dezentralisiert sind und bei denen an den unterschiedlichen Standorten spezifische Aufgaben geleistet werden, ist es jedoch empfehlenswert, sich einmal die konkrete Situation vor Ort anzusehen und sich Schwierigkeiten und Herausforderungen erklären zu lassen.

 

2.) Das Interesse an Arbeit und am Arbeitsplatz ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ermöglicht es Führungskräften, unmittelbaren Kontakt aufzunehmen und Wertschätzung auszudrücken, die wiederum motivierend für alle ist.

 

3.) Ideal ist es, wenn eine Führungskraft einmal einen Tag lang selbst vor Ort mitarbeitet – und dies zuvor mit allen Beteiligten abgesprochen hat, damit wichtige Arbeitsvorgänge nicht behindert werden.

 

4.) Führungskräfte, die die Arbeitsabläufe an den Arbeitsplätzen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gut kennen, haben es meistens leichter, Verbesserungsvorschläge, Anregungen und Anweisungen vorzutragen und durchzusetzen. Außerdem kann der kompetente Blick von außen, kombiniert mit dem Wissen über das „Innere“ viele Probleme rasch lösen oder abmildern.

 

5.) Chefs müssen allerdings nicht jedes einzelne Detail an jedem Arbeitsplatz ihres Unternehmens kennen, hierfür sind ihre Fachkräfte die Experten.

 

Tipps zum Lesen

Immer, wenn es für uns möglich ist, wählen wir für Sie aus der sehr umfangreichen Literatur zu Beruf und Karriere einige Bücher aus, die unsere ganz subjektiven Empfehlungen für Sie sind:

 

Freemantle, David, 80 Tipps für tolle Chefs und solche, die es werden wollen

2006, Redline Wirtschaftsverlag, ISBN: 9783636013491

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