Sie sehen aus wie gemalt …
…höre ich mitten in der Wochenendhektik im Supermarkt ein älteres Paar neben mir sagen, das sich über eine Kiste mit Birnen beugt. Verdattert halte ich mein Gedankenkarussell an, das sich um die Fragen dreht, was in meinem Einkaufswagen noch fehlt. Und tatsächlich: ein zartes Farbenspiel von Orange-Rot nach Hellgrün überzieht die sorgfältig präsentierten Birnen. „Wir finden, sie sind wie kleine Kunstwerke, dabei isst mein Mann gar keine Birnen“, erzählt mir die Dame in unserem kurzen Gespräch vor der Birnenkiste, und wir verabschieden uns lächelnd.
Ich verharre noch eine Weile, verwundert über die Begegnung und was sie mit mir macht. Ist dies das Geheimnis von Entschleunigung? Im Alltag einen Moment inne zu halten, die eigene Umgebung wahrzunehmen und mich auf das einzulassen, was mich gerade umgibt? Z. B. die kleinen Birnenkunstwerke im Supermarkt? Oder das stille Lächeln im Gesicht der Großmutter, wenn der Enkel darum bittet, doch die größere Tüte mit Gummibärchen in den Einkaufswagen legen zu dürfen, und sie ihm nachgibt.
Wir alle wissen, dass das Leben in letzten 150 Jahren wesentlich schneller geworden als in den Jahrhunderten davor. Wir schlafen im Schnitt eine halbe Stunde weniger in der Nacht als noch vor 30 Jahren. Dank moderner und geschätzter Technik sind wir im Beruf und privat theoretisch immer und überall erreichbar. Und immer mehr Menschen fühlen sich gehetzt. Im Beruf, in der Familie, bei Freundschaften oder wenn es um das Gestalten ihrer Freizeit und ihres Urlaubs geht. Unternehmen stellen kritisch in ihren eigenen Häusern fest, dass mehr als die Hälfte aller Projekte erfolglos sind, weil die Mitarbeiter nicht genügend Zeit hatten, die Prozesse zu durchdenken, und neue Projekte bereits begonnen werden müssen, ehe die alten wirklich bearbeitet und abgeschlossen sind. Inzwischen helfen immer mehr Berater immer mehr Firmen und Dienstleistungsunternehmen, sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren, damit sie effizient sein können. Und darauf, allen Mitarbeitern die Chance zu geben, weiterhin Schritt halten zu können, wenn sich deren Arbeitsplätze und Aufgabengebiete verändern.
Nicht jeder von uns kann es sich leisten für ein halbes Jahr aus dem Beruf auszusteigen und sich so zu entschleunigen. Eine offene Kirchentür nutzen für einen Moment der Stille auf dem Weg von A nach B, abends nach Feierabend einfach 10 Minuten nichts tun, ehe wir den Fernseher einschalten und uns dann gleichzeitig um Emails, Wäsche oder die neuesten Umsatzzahlen kümmern, das könnten kleine Auszeiten im Alltag sein oder auch das Betrachten der wie gemalt aussehenden Birnen im Supermarkt.
Checkliste
1.)Haben wir jahrelang auf der Überholspur gelebt und möchten dies ändern, empfiehlt es sich, nicht plötzlich von 100 auf 0 herunter zu schalten, sondern in kleinen Schritten die im Körper in hohen Dosen vorhandenen Stresshormone Adrenalin und Cortisol abzubauen. Beispielsweise durch kleine Auszeiten im Alltag, die allmählich in halbe und in ganze Tage übergehen können oder durch regelmäßigen Ausdauersport.
2.)Erkenne ich, dass mein ‚ich fühle mich gehetzt‘ sich auch übersetzen lässt in ‚ich lasse mich hetzen‘ und dann verändern lässt in ‚ich erlaube, wer und was mich hetzt‘, dann kann es mir damit gelingen, mich weniger gehetzt und unter Zeitdruck zu fühlen und mich allmählich von dem eigenen Anspruch zu verabschieden, immer perfekt sein zu müssen und 100% zu funktionieren.
3.)Nicht immer ist Entschleunigen nur wohltuend. Etwa dann, wenn uns unsere Auszeiten herausfordern, uns mit uns selbst zu befassen und wir plötzlich viele Fragen haben und nur wenige Antworten. Dann können Gespräche mit Familie, Freunden, einem Coach oder einem Therapeuten hilfreich für uns sein und uns erst einmal begleiten bei dem Entdecken unserer eigenen Langsamkeit.
Tipps zum Lesen
Seewald, Peter, Die Schule der Mönche, 2011, Herder Verlag, ISBN: 9783451310638
Seiwert, Lothar, Ausgetickt, 2011, Ariston Verlag, ISBN: 9783424200584
Kunstmuseum Wolfsburg, Kunst der Entschleunigung, Ausstellung bis 9. April 2012 und Katalog