Was wird wahr werden?
Gehören Sie zu den Menschen wie ich, die am Ende eines jeden Jahres aus ihrer Lieblingszeitschrift das Jahreshoroskop heraus reißen, eifrig studieren, und mit viel Engagement überlegen, was Ihnen das Horoskop über Ihre Zukunft erzählt? Um dann Monate später die Zeilen erneut zu lesen und wie in den Jahren davor festzustellen, dass nichts davon eingetroffen, nichts davon wahr geworden ist? Horoskope lassen breite Interpretationsspielräume zu. Sie profitieren davon, dass wir glauben zu wissen, was wahr ist, wenn wir einen Text lesen, ein Bild sehen oder bestimmte Sätze hören. Sie spielen deshalb oft mit Worten, die wir so oder so wahrnehmen können. Sie lassen uns die Freiheit, uns für diese oder jene Deutung der Worte zu entscheiden. Mit dem Ergebnis, dass wir oft genug feststellen (müssen), dass sich die Sätze in unserem Horoskop auch anders verstehen und interpretieren lassen.
Psychologen können uns anhand einfacher Beispiele veranschaulichen, dass es eine einzige, eine richtige, eine wirklich objektive Wahrnehmung gar nicht gibt. Bekommen wir Informationen, die in sich widersprüchlich sind oder die wir auf die eine oder auf die andere Art und Weise deuten können, dann entscheidet sich unser Gehirn in den allermeisten Fällen für die Interpretation, die zu unseren bereits gemachten oder erlernten Erfahrungen am besten passt. Manchmal sind wir verwundert, wie anders unsere Worte von unserem Gegenüber gehört oder in einem Brief oder einer Email gelesen werden. Erzählen wir beispielsweise in einem Gespräch, dass wir breite Reifen an Autos gut finden, dann kann es uns passieren, dass unser Gegenüber das Bild in sich trägt, zu breiten Autoreifen gehören immer ein starker Motor und mit uns eine Diskussion über zu schnelles Autofahren beginnt. Dabei wollten wir nichts anderes sagen, als dass wir breite Autoreifen ‚cool‘ finden.
Unsere Wahrnehmung hängt nicht nur vom Gelernten und Erfahrenen ab, sondern auch davon, in welchem emotionalen Zustand wir uns gerade befinden. Sind wir verärgert, empfinden wir freundlich gemeinte Worte unseres Gegenübers oft als lästig, während wir uns ansonsten darüber gefreut hätten. Gehören wir zu den Menschen, die viele Empfindungen und Gefühle verdrängen, weil wir uns vor emotionalen Verletzungen schützen wollen, dann sind wir zu oft fest davon überzeugt, dass unsere Wahrnehmung die einzig richtige ist, d. h., dass wir (immer) Recht haben. Wir können uns dann selbst weiter helfen, in dem wir uns bei einem schwierigen Thema in einer ruhigen Minute auf einen anderen Stuhl setzen, in ein anderes Zimmer gehen oder die berühmte Nacht darüber schlafen, ehe wir reagieren, um „Recht zu haben“. Der Blick aus einer anderen Perspektive kann uns darin unterstützen, die Dinge anders wahrzunehmen, als bislang. Wir gewinnen dann die Erkenntnis, dass auch die Sicht unseres Gegenübers wahr sein kann und nicht (immer) nur die unsrige.
Einen guten Start ins neue Jahr wünscht Ihnen
Tipps zum Lesen
Irtel, Hans, Lay, Martin, Goldstein, E. Bruce, Plata, Guido, Wahrnehmungspsychologie: Der Grundkurs, 2007 (7. Auflage), Spektrum Akademischer Verlag, ISBN: 9783827417664