Allein sein – einsam sein

„Ich verstehe mich einfach nicht. Ich bin unter Menschen und fühle mich dabei oft sehr allein. Weshalb?“ Auf den ersten Blick erscheint das Gefühl von Jochen K., sich häufig einsam zu fühlen, unverständlich. Der 23jährige Versicherungskaufmann im 3. Ausbildungsjahr ist bei Kollegen und Freunden gleichermaßen beliebt. Sein Chef hält schätzt seine Arbeit und seine Persönlichkeit und hat ihm bereits zugesichert, ihn im Anschluss an die Ausbildung fest anzustellen. Ursprünglich war er zum Coaching gekommen, weil er seinen Auftritt bei Vorträgen und Präsentationen verbessern wollte. Er fand es für sich unbefriedigend, dass er es einfach nicht schafft, seine inhaltlich spannenden Themen mit „Esprit“, wie er es nannte, vortragen zu können.

Schritt für Schritt erarbeitete er in der Beratung, dass sich inmitten von Freunden und Kollegen nicht allein fühlt, sondern einsam ist. Für ihn war es dabei schmerzhaft zu erkennen, dass er sich, trotz seiner zahlreichen Kontakte, niemand nahe fühlte und sich nicht darüber austauschen konnte über das, was ihn innerlich bewegte. Oft hatte er den Eindruck gehabt, er sei ausgeschlossen, auch wenn er sich inmitten einer Gruppe befand. Allmählich entdeckte er für sich, dass er es ist, der in sich die Überzeugung trägt, er sei nicht liebenswert und habe es deshalb nicht verdient, dass Menschen ihn gerne um sich haben und sich mit ihm austauschen möchten. Obwohl er sehen konnte, dass er von den anderen geschätzt wurde und dass er beliebt war, glaubte er es ihnen nicht, sondern fürchtete sich vor der Zurückweisung und der Ablehnung der anderen.

Zögernd machte er sich im Coaching auf den Weg, seine Schwächen anzunehmen und seine Stärken zu verstehen und auszubauen. Darüber hinaus begann er, sein Selbstwertgefühl zu stärken und seine Überzeugung loszulassen, als Mensch und Kollege unbedeutend zu sein. Weiterhin machte er sich bewusst, dass nicht die anderen, sondern er dafür verantwortlich ist, wie es ihm geht und wie er zufrieden sein kann. Bis heute bittet er seine Freunde und seine Familie um Hilfe und um ein Gespräch, wenn das Gefühl der Einsamkeit und das des „mich wertlos fühlen“ wieder in ihm aufkommt. „Ich hätte nie gedacht, wie sehr ich ihre Unterstützung brauche. Sie helfen mir alle sehr.“

Einsam fühlt er sich immer mal wieder, selten jedoch längere Zeit. Dafür genießt er es zunehmend, hin und wieder ganz bewusst allein Zeit mit sich zu verbringen, um Abstand vom Alltag zu gewinnen und von den vielen Wünschen seiner Freunde, seiner Familie und seiner Kollegen an ihn. Inzwischen arbeitet er wieder an seinem Thema Präsentationen und Vorträge: „Ein wenig Feinschliff brauchen sie noch. Mehr Nähe als früher haben sie jetzt schon.“

 

Checkliste

 

1.) Viele Menschen fühlen sich einsam, trotz Handy, Internet und Email. Je länger das Gefühl der Einsamkeit andauert, umso schwieriger wird es für uns, uns selbst daraus zu befreien. Manchmal wissen wir nichts mit uns anzufangen und fühlen uns deshalb einsam. Häufiger leiden wir unter Einsamkeit, weil wir beispielsweise glauben, unbedeutend zu sein, dem anderen nichts geben zu können, weil wir uns wegen bestimmter Situationen schuldig fühlen oder weil wir uns selbst nichts zutrauen.

2.) Akzeptieren wir, dass wir einsam sind und uns verlassen fühlen, können wir mit einer Therapie, einem Coaching oder durch Gespräche mit Freunden, die wir haben oder die wir aus früheren Zeiten wieder entdecken können, und mit unserer Familie beginnen, unsere Einsamkeit Schritt für Schritt loszulassen.

3.) Während Einsamkeit für uns meist schmerzhaft ist, kann es wohltuend für uns sein, allein sein zu wollen. Wir entscheiden uns dann bewusst dafür, für ein paar Momente, Stunden oder Tage uns aus unserem Alltagsleben zurück zu ziehen und für uns sein zu können.

 

Tipps zum Lesen

Wagner, Ursula, Die Kunst des Alleinseins, 2006, Theseus Verlag, ISBN: 9783896202550

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